Offener Brief der Alzheimerges. Nds. an Sozial­ministerin Frau Dr. Carola Reimann


Forderungen nach Sofortmaßnahmen der Alzheimer Gesellschaft Niedersachsen e.V. an die Niedersächsische Sozialministerin Dr. Carola Reimann

Unterstützung von Menschen mit Demenz und pflegenden Angehörigen dringend neu justieren und ausbauen!

Die Ausnahmesituation der letzten Wochen macht deutlich, wie fragil das bestehende Versorgungssystem in Niedersachsen für Menschen mit Demenz trotz hoch engagierter Pflegekräfte, Ehrenamtlicher, pflegender Angehöriger und dem Wirken der Alzheimer Gesellschaften ist.

Die Covid-19 – Pandemie trifft vor diesem Hintergrund ältere Menschen, Menschen mit Vorerkrankungen und Pflegebedürftigkeit, insbesondere Menschen mit Demenz in ganz besonderer Weise. lhre Letalitätsrate in der Pandemie ist sehr viel höher als die jüngerer und gesunder Menschen. Die hohe Ansteckungsgefahr und ihr besonderes Sterblichkeitsrisiko werden uns derzeit in einigen Pflegeheimen vor Augen geführt, in denen Bewohner*innen und Mitarbeitende erkrankt sind. Auch nach einer Lockerung derzeitiger Maßnahmen zur Kontaktreduzierung in der Gesellschaft wird auf eine unabsehbar lange Zeit für diese Personenkreise von besonderen Schutzmaßnahmen auszugehen sein, wie bspw. strikte Kontaktreduzierung.

Nach Einschätzung der Alzheimer Gesellschaft Niedersachsen e.V. werden aufgrund der Pandemie pflegebedürftige Menschen, von einer Demenz betroffene Menschen und die für sie sorgenden Menschen über viele Monate mit dem Fortbestehen von extremen Einschränkungen der sozialen Beziehungen und Außenkontakte konfrontiert sein. Diese betreffen auch Unterstützungsangebote, die im Rahmen des SBG XI zur Verfügung stehen. Erst wenn eine wirkungsvolle Behandlung bei einer Covid-19 – Erkrankung möglich ist oder ein entsprechender lmpfstoff entwickelt worden ist, werden die besonderen Schutzmaßnahmen für diese Personengruppen aufgehoben werden können.

Begleitet wird diese Situation durch Nachrichten und eine Berichterstattung in den Medien, die eher Ängste schüren und zur Beunruhigung beitragen. Pflegende Angehörige, Ehrenamtliche und die Einrichtungen benötigen in dieser schwierigen Situation anstelle von Skandalisierungen und Beschimpfungen unterstützende Signale und Informationen zur Bewältigung dieser herausfordernden Situation.

Aktuelle Ausgangssituation:

  • Besuchsverbote in stationären Pflegeheimen
  • Aufnahmestopp in den Heimen (auch für eingestreute Kurzzeitpflegeplätze)
  • lsolierung einzelner oder aller Bewohner*innen in Pflegeheimen mit Verdachtsfällen bzw. mit Covid-19 Patient*innen
  • Entlassung vom Krankenhaus direkt in die Häuslichkeit auf Druck der Krankenhäuser, die ihre Betten für Covid-19 – Patient*innen freihalten sollen
  • Schließung von Einrichtungen der Tagespflege und der nach Landesrecht geförderten Gruppenangebote nach § 45 a-b SGB Xl. Dadurch entfällt die gewünschte Entlastungsfunktion für pflegende Angehörige. Durch die in der Pandemie erzeugten Ängste entstehen zusätzlich zu der nun wieder ganztags zu erbringenden Betreuung erhöhte Belastungen für die Angehörigen.
  • Reduzierung der Einsätze von Pflegediensten bei Pflegebedürftigen mit Angehörigen. Auch diese Einschränkungen führen zu höheren Belastungen bei den pflegenden Angehörigen. Für demenzkranke Pflegebedürftige stellt eine Isolation eine unbeschreibliche Belastung dar: sie können die Situation nicht einordnen, sie versuchen wiederholt das eigene Zimmer zu verlassen, Erklärungen zu ergriffenen Maßnahmen werden sofort wieder vergessen, Unruhe und Bewegungsdrang werden – gepaart mit einem Gefühl eingesperrt zu sein – potenziert, Ängste und Panikgefühle können zu aggressivem Verhalten und/oder zu Depressionen führen. Das Personal in den Pflegeheimen steht damit vor riesigen Herausforderungen und benötigt seinerseits dringend Unterstützung bei der Einhaltung notwendiger Maßnahmen und Rückenstärkung in dieser hohen psychischen Belastungssituation.

 

Die Folgen sind:

  • Erhebliche Belastungen für pflegende Angehörige in bereits bestehenden pflegebedingten hohen Belastungssituationen
  • Möglichkeiten der Entlastung durch Tagespflege, Kurzzeitpflege, Verhinderungspflege und Angebote zur Unterstützung im Alltag (Gruppen- und Einzelbetreuung) sowie Therapeut*innen sind weitgehend entfallen
  • Akute Entlassungen von pflegebedürftigen Patient*innen aus dem Krankenhaus, die vor der Pandemie in die Kurzzeitpflege oder die Rehabilitation verlegt worden wären, werden jetzt direkt in die Häuslichkeit vorgenommen und setzen Angehörige unausweichlich in die Situation, die Pflege weitgehend allein übernehmen zu müssen.

Forderungen nach Sofortmaßnahmen:

  1. Schaffung solitärer Kurzzeitpflege-Einrichtungen (mit entsprechenden Quarantänebereichen, die die besonderen Erfordernisse von Menschen mit Demenz und anderen gerontopsychiatrisch erkrankten Menschen berücksichtigen) im Bestand von Einrichtungen, ggf. auch in Rehaeinrichtungen in ausreichender Zahl und auf regionaler Ebene. Dabei sollte eine adäquate personelle Besetzung mit pflegerischem und betreuendem Personal Berücksichtigung finden. In Extremsituationen von erlebter Isolation ist die psychosoziale Begleitung von demenzkranken Pflegebedürftigen von hoher Bedeutung.
  2. Öffnung von Einrichtungen der Tagespflege mit besonderen Schutzmaßnahmen auch für von Angehörigen gepflegte Menschen, die die Pflege zu Hause allein nicht mehr bewältigen können. Kriterien für eine entsprechende Auswahl: von Fachpflege oder Ärzt*innen bescheinigte besondere Belastungsdimensionen, wie eigene schwere Erkrankung oder Behinderung, bestehende Gewaltpotentiale in der häuslichen Pflegesituation, extreme psychische Belastungen (wie Ängste, Depressionen, Traumata etc.)
  3. Anerkannte Anbieter von Angeboten zur Unterstützung im Alltag sollten unabhängig von ihren beantragten Angebotsarten (Betreuungsleistungen, Entlastung der Pflegenden, Entlastung im Alltag) nach § 45 a Satz 1 SGB Xl ihre Leistungen abrechnen können wie bspw.: regelmäßige, telefonische Pflegebegleitung für pflegende Angehörige, individuelle „Fensterbesuche und -gespräche” durch Ehrenamtliche und Mitarbeiter*innen, digitale Gruppenangebote. Es sollten in diesem Bereich Übergangslösungen bis zu dem Zeitpunkt gefunden werden, in dem diese Leistungen im Normalbetrieb wieder angeboten werden können.
  4. Förderung einer proaktiven telefonischen Kontaktaufnahme und Beratung von Angehörigen von demenzkranken Pflegebedürftigen, die sich bereits in der Betreuung durch Alzheimer Gesellschaften befinden, durch finanzielle Zuwendungen des Landes. Durch Gespräche und Beratung sowie Initiierung bspw. von Telefonketten unter gleich betroffenen Angehörigen können niedrigschwellige Kontaktmöglichkeiten eröffnet und nachhaltig aufgebaut werden.
  5. Öffnung des Hilfsmittelkatalogs für Tabletts für Videobesuche und Spielmöglichkeiten auf Tablets, wie bspw. die App Auguste der Alzheimer Gesellschaft Niedersachsen
    http://www.alzheimer›niedersachsen.de/
    https://www.deutsche-alzheimerde/unser-service/a rchiv-alzheimer-info/aueuste-eine-am; fuer-menschen-mit-demenz.html
  6. Informationen über erfolgte Maßnahmen zur Entlastung von pflegenden Angehörigen und Unterstützung von pflegebedürftigen Menschen in beratenden Organisationen (SPN, Pflegeberatung der Pflegekassen, Alzheimer Gesellschaften) sowie in öffentlichen Medien (NDR und Zeitungen)
  7. Die schnelle Schaffung eines „Demenz aktiv in Niedersachsen” Projektes, in dem ausgehend von den jetzt in der Covit-19 Pandemie zu Tage getretenen Problemen kreative Lösungsansätze, best practise Beispiele, Informationen, deeskalierende Öffentlichkeitsarbeit und andere Maßnahmen für die besonderen Belange von Menschen mit Demenz für das Land Niedersachsen gebündelt und für die Schnittstellen der ehrenamtlichen Tätigen, der pflegenden Angehörigen und der professionellen Dienste und Einrichtungen zur Verfügung gestellt werden. Somit können die Potentiale der Selbsthilfe mit den Möglichkeiten der professionellen Angebote nicht nur in dieser Krise, sondern auch dauerhaft gewinnbringend in Niedersachsen zusammengeführt werden. Die regionalen Alzheimer Gesellschaften und die Alzheimer Gesellschaft Niedersachsen e.V. stehen für diese Aufgaben zur Verfügung und können sich an der Neujustierung beteiligen.

Für den Vorstand der Alzheimer Gesellschaft Niedersachsen e.V.

Dr Jürgen Brommer
Vorsitzender